Zum Beißen Gern

Tropf

Der Klang des herunterfallenden Wassers ist der Herzschlag der allumfassenden Dunkelheit, die ich schwer auf meiner Haut spüre. Einzig das Brennen meiner trockenen Kehle zeigt, dass ich noch am Leben bin. Oder bin ich doch schon gestorben, sodass die Qual meines Wartens mich in das Jenseits begleitet und eine ganz eigene Hölle geschaffen hat? Schwer seufzend lasse ich den Kopf gegen den kalten Stein hinter mir sinken. 

Wie lange bin ich schon hier? Sind es Monate? Jahre oder sogar Jahrzehnte? Ewige Finsternis und ein immer wiederkehrender tiefer Schlaf haben mein Zeitgefühl vollständig aufgezehrt. Wie es meinen Eltern wohl geht? Haben sie mich vergessen? Warum habe ich mich nur freiwillig hier unten einsperren lassen? Die Alternative erscheint mir inzwischen so viel einladender, friedlicher und doch bin ich zu feige, es selbst zu tun.

Ein feines Kratzen von winzigen Krallen auf dem unebenen Steinboden durchbricht die Monotonie. Mein Herzschlag beschleunigt sich, während meine Zunge fahrig über die aufgesprungenen Lippen fährt. Endlich, endlich wagt sich wieder ein neugieriges Exemplar in meine Gefilde vor. Das Letzte liegt schon viel zu lange zurück. Noch sitze ich ruhig, lauere auf mein Opfer, bis etwas an meiner Hand entlang gleitet. Im nächsten Moment packe ich zu. Panisches Fiepsen schmerzt in meinen empfindlichen Ohren und ist gleichzeitig ein Klang süßer als Honig.

Ich rieche die Angst des Wesens, die mich zu Beginn meiner Gefangenschaft noch zurückweichen ließ, doch jetzt hat sie etwas Berauschendes bekommen wie ein guter Wein. Durch meine Hand spüre ich, wie das Blut in dem kleinen Leib zirkuliert und sich dabei der leichte Geruch von Eisen in meiner Nase ausbreitete. Er kommt aus meiner Erinnerung und schürt den Hunger zusätzlich. Meine Eckzähne wachsen und drücken unangenehm auf das gegenüberliegende Zahnfleisch. Der Hunger überrennt meinen Verstand und ich öffne mit einem schmatzenden Geräusch meinen Mund.

Dann beiße ich zu. Das warme Blut gleitet meine Kehle hinab und nur wenige Schlücke später bewegt sich das Tier nicht mehr. Der Geschmack des Blutes lässt mich nur kurz frösteln. Es ist nicht wirklich lecker, doch ich kenne nichts anderes mehr. Selbst die Erinnerung an das Essen meiner Mutter ist verschwunden. Der einzige Geschmack, der noch in meiner Welt existiert, ist der des Rattenblutes.

Ich spüre, dass sich mein Gebiss nicht in das eines Menschen zurückverwandelt und alles in mir nach mehr schreit, doch ich bewege mich nicht. Erneut lege ich den kalten Leib an meine Lippen, um vielleicht noch einen winzigen Schluck zu erhaschen, vergeblich.

Frustriert und mit einem leichten Aufschrei werfe ich den leblosen Körper von mir und grabe meine Finger verzweifelt in den lehmigen Boden. Wie lange wird es dauern, bis ein neues Mitglied der Rattenfamilie zu mir kommt? Werde ich davor wieder schlafen? Ich brauche noch ein Exemplar. Es ist nicht genug. Sie müssen zu mir kommen und mich nähren, doch ich weiß, dass dies so schnell nicht mehr passieren wird. Die Tiere werden mich aufgrund des Todes ihres Artgenossen nun für eine Weile meiden.

Ein knurrender Laut dringt erneut aus meiner Kehle, als ich meinen Kopf zurück gegen den Stein hinter mir sinken lasse. Ich ziehe ein Bein an meinen Körper und höre das Rascheln der Ketten, deren Gewicht ich nicht mehr wahrnehme. Das Blut hat meinen Geist etwas belebt und so wandert er unwiderruflich zurück zu den Bildern meines vergangenen wirklichen Lebens.


~*~

 „Michael! Hilf deinen Vater die Kühe zu versorgen!“, die kräftige aber sanfte Stimme einer Frau schallte über den Hof und ich drehte den Kopf in ihre Richtung.

 „Ja, Mutter! Ich füttere nur noch eben die Hühner!“, rief ich zurück und lächelte das Geflügel zu meinen Füßen an. Es pickte eifrig über den festgetretenen Boden und versuchte jedes noch so winzige Korn zu ergattern.

Ruhig tauchte ich meine Hand erneut in den Jutebeutel, um meine Schulter und streute wieder ein wenig Futter für sie auf den Boden. Glücklich beobachte ich das Treiben der Hühner, bis ich die barsche Stimme meines Vaters hörte: „Michael! Wo bleibst du?!“

Ein Seufzer stahl sich über meine Lippen, als ich den Futterbeutel an den dafür vorgesehenen Nagel am Hühnerstall hängte und zum Kuhstall lief. 

Die Kühe waren einfach nur doof. Sie waren groß, standen nur da und kauten auf ihrem Futter herum, während wir bis zum Umfallen schufteten. Zu allem Überfluss stanken sie gewaltig. Fast so schlimm wie Schweine. 

Oh Gott, war ich froh, dass wir keine Schweine hatten. Diese Tiere waren einfach nur widerlich. Ihre Ausdünste versengten mir die Nasenhaare, sie fraßen alles, was ihnen vor die Nase kam und waren meistens so dreckig, dass ihre eigentliche Farbe nicht mehr erkennbar war.

 „Wo soll ich helfen, Vater?“, fragte ich meinen alten Herrn, als ich den Stall betrat. Er hatte schon die Hälfte der Tiere mit Heu aus dem Lager versorgt. Sofort packte ich mit an, auch wenn ich verwundert war, dass wir die Tiere bei dem Wetter nicht auf die Weide trieben. 

Als ich mich zwischen zwei Handgriffen danach erkundigte, bekam ich als Antwort nur ein kurzes Schnauben. Mein Vater war mit seinen fast vierzig Jahren nicht mehr der Jüngste. Sein kurzes, braunes Haar wurde von den Schläfen ausgehend mit jeder Jahreszeit grauer und die Haut war gezeichnet von der vielen Arbeit in der Sonne.

Er trug wie ich nur einfaches braunes Leinengewand, das meine Mutter gemacht hatte. Sie war eine begabte Schneiderin und verdiente sich damit ein paar extra Schillinge, die wir in strengeren Jahren gebraucht hatten.

 „Nein, wir haben heute viel Arbeit auf den Feldern und keine Zeit, sie heute Nacht wieder rein zu holen“, rechtfertigte er die Fütterung der Tiere mit dem wertvollen Heu für den Winter.

 „Dann lassen wir sie halt einfach draußen. Das haben wir doch schon öfters getan.“ Ich zuckte mit den Schultern und gab der letzten Kuh ihr Futter, ehe ich mich zu meinem Vater umdrehe.

Sein Gesicht ist angespannt und zitterte er etwa? Im dämmerigen Licht der Scheune könnte es auch nur eine Einbildung sein, denn seine Stimme war fest und bestimmt, als er antwortete: „Das ist nicht mehr möglich.“

Bevor ich weiter fragen konnte, wandte er sich ab und verließ den Stall. „Komm, Michael. Die Felder bewässern sich nicht von selbst.“

Stirnrunzelnd folgte ich meinem alten Herren hinaus in die grelle Sonne. Ich war das einzige Kind und das hat er Mutter lange vorgeworfen. Im Endeffekt war es aber mehr ein Segen, denn ein Fluch gewesen, da selbst wir drei es manchmal nur so gerade eben durch einen harten Winter geschafft hatten.

Als ich auf den Hof schritt, lud mein Vater schon die Behälter für das Wasser auf dem Pferdekarren. Ich sah, wie schwer es ihm fiel, den Holzeimer anzuheben, sodass ich schnell an seine Seite eilte und ihm diesen abnahm. 

 „Lass mich nur machen, Vater. Spann lieber das Pferd vor den Wagen.“ Ich lief zur Pumpe und füllte das Gefäß mit kräftigen Hüben.

Kurz flammte der Stolz in seinen Augen auf, doch der befürchtete Protest blieb aus. Stattdessen lächelte er mich dankbar an, bevor er unser Pferd holte. Dieses Tier war unser wertvollstes Gut. Wir hätten uns den Kauf niemals leisten können, doch zum Glück hatten wir das Fohlen gefunden. Seine Mutter lag getötet nur wenige Schritte entfernt und wir zogen es mit Kuhmilch auf. Da niemand ihn zurückforderte, behielten wir ihn. Seitdem war es zu einem stolzen Hengst herangewachsen und half uns bei der Feldarbeit.

Unermüdlich füllte ich einen Eimer nach dem anderen mit Wasser und stellte ihn auf dem Wagen ab. Hoffentlich regnete es bald. Die Dürre hatte bereits erste Schäden an den Pflanzen angerichtet, die unsere Ernte drastischer verkleinern könnte, als wir es gewohnt waren.

 „Bist du fertig, Sohn?“, hörte ich Vaters dunkle Stimme und musste lächeln, als ich ihn schon auf den Wagen sitzen sah. Es war ein schönes Bild meinen alten Herren arbeitswütig und munter zu sehen. Schließlich konnte jeder Tag der Letzte sein und ich wusste, dass ich mich darauf vorbereiten musste den Hof zu übernehmen.

 „Ja, nur noch dieser Eimer.“ 

Ich war dankbar für meine Familie und wünschte mir, dass sie noch lange bestehen blieb. Ich liebte meine Eltern und ich wusste nicht, was ich ohne sie tun würde.

Der letzte Wasserstrahl schoss aus der Pumpe und ich hob den Holzkübel hoch. Ich trug ihn zu dem Wagen und hievte ihn darauf.

Ich nahm neben meinem Vater Platz, um mit ihn dann in Richtung der Felder aufzubrechen. 


~*~

Tropf

Ein Wassertropfen trifft mein Gesicht und lässt mich hochschrecken. Der Geruch des kalten Steines dringt in meine Nase ein und jagt mir einen Schauer über den Rücken. Alles in mir sträubt sich gegen diesen Ort und sehnt sich nach Freiheit. Ich bleibe jedoch sitzen und öffne zögernd meine Augen, um in die Dunkelheit zu starren. 

Mein Leben war wunderschön gewesen. Erst hier ist mir klar geworden, wie sehr ich es geliebt hatte und nun wünsche ich es mir zurück.Langsam stehe ich auf und gehe ein paar Schritte, bis die Kette an meinem Fußgelenk mich stoppt. Dieser kurze Zug erinnert mich immer wieder daran, was ich eigentlich bin. Ein Gefangener der Dunkelheit. Ich gehe seitlich weiter, obwohl ich nichts sehe. Alles in mir schreit nach Licht, trotz des Wissens, dass es mich verbrennen wird.

Ein Fauchen dringt aus meiner Kehle und ich spüre den unangenehmen Druck der Eckzähne an meinem Zahnfleisch. Er zwingt mich dazu meinen Mund ein Stück zu öffnen, während ich weiter hin und her laufe.

Das Verlangen die Ketten zu sprengen und zu fliehen wird immer stärker, doch auch wenn ich das Erste ohne Probleme schaffen werde, so weiß ich, dass mich das Licht töten wird und dazu bin ich nicht bereit.

Kraftlos sinke ich auf den Boden. Der Hunger verbrennt mich innerlich und das Verlangen nach Blut drängt mich, meinem Gefängnis zu entfliehen. Ich habe aber ein Versprechen gegeben und werde stark bleiben. Ich rolle mich zusammen und beginne zu weinen.


~*~

 „Freust du dich schon auf die Hochzeit, mein Junge?“ Mein Vater strahlte mich stolz über den Tisch hinweg an. Ich sollte am kommenden Sonntag die Tochter seines guten Freundes heiraten.

Sie war hübsch und durchaus sehr nett. Die langen, blonden Haare fielen ihr wie flüssige Seide über die Schultern und strahlten wie Gold unter der Sonne. Sie hatte eine sehr weibliche Figur: breites Becken, schmale Schultern und feste Brüste. Ihre große Mitgift konnten wir im Moment sehr gut brauchen, da der heiße Sommer einen Großteil der Ernte zerstört hatte.

 „Ja, Melanie ist ein sehr schönes Mädchen. Auch wirkt sie sehr nett und liebevoll. Ich glaube, dass wir uns gut verstehen werden“, beantwortete ich die Frage meines Vaters und ließ mir das Käsebrot schmecken.

 „Das freut mich. Dich doch auch, Weib?“ Er wandte sich zu meiner Mutter, die lächelnd nickte: „Ja. Du wirst Melanie doch gut behandeln, oder Michael?“

 „Natürlich, Mutter“, ich griff nach ihrer Hand und hauchte einen Kuss auf den Handrücken. Niemand war mir heiliger als sie.

Ihr Gesicht war durchzogen von Sorgenfalten und das einst so wunderschöne, blonde, lange Haar, war mittlerweile schneeweiß und stumpf.

Ihre Hände zitterten unentwegt, sodass sie kaum noch etwas nähen konnte und ihre Augen glitten über die Umgebung, ohne etwas zu fixieren.

Ich hatte Angst um sie, dass sie bald nicht mehr bei mir sein konnte. Auch ihr zärtliches Lächeln konnte diesen eisigen Klumpen in meinem Magen nicht vollständig schmelzen.

Ich hatte noch nie verstanden, woher sie die Fähigkeit nahm, mir mit so einer simplen Geste all meine Sorgen zu nehmen. Ich beneidete sie um diese Macht. Hätte ich sie doch nur geerbt.

Sie brach den Augenkontakt ab und wir aßen ruhig zu Ende. Ich wusste nicht, ob das Schweigen gut oder schlecht war, dennoch durchbrach ich es nicht. 

Immer wieder erwischte ich mich dabei, wie ich an die kommende Hochzeit dachte. Sie würde mich gänzlich an diesen Hof fesseln und mein Leben in vorgegebenen Bahnen lenken. Wenn ich dieses Bündnis geschlossen hatte, dann gab es für mich kein Entkommen von diesem Hof mehr.


~*~

Ich spüre einen leichten Luftzug auf meiner Haut und rieche den Duft des Frühlings, der in mein Gefängnis eindringt. Ein Lächeln legt sich auf meine Lippen, als ich mich diesem zuwende. Ist es nun so weit? Ist die Zeit gekommen, dass man mich freilässt? Kommen mich meine Eltern holen?

Wenn ich ganz genau lausche, dann kann ich etwas hören. Die Stille der Leere stirbt unter den dumpfen Schlägen auf Gestein und führt mich weiter in das Hier und Jetzt.

Ich erhebe mich und gehe auf das Geräusch zu. Nach nur zwei Schritten stoppt mich die Kette, doch ich reagiere dieses Mal nicht und ziehe den Fuß ruckartig an meinen Körper ran. Die verrosteten Glieder zerspringen mit einem lauten Knall.

Nur wenige Schritte trennen mich von der Wand, hinter der die Laute erklingen. Ich lege meine Hände auf den kalten Stein und lehne meine Stirn dagegen. Die Kühle dringt in meine Gedanken ein und beruhigt mein erhitztes Gemüt ein wenig. 

Meine Beine sind es nicht gewohnt, dass sie mich so lange tragen. Ich spüre, wie sie zu zittern beginnen und ich zu Boden sinke. Meine Hände selbst bleiben an der Wand liegen und graben sich tiefer in das Gestein, bis meine Nägel unter einem stechenden Schmerz einreißen und ich stoppe. Holt mich hier raus!


~*~

Morgen würde ich Melanie heiraten. Mein Leben war kurz davor, sich drastisch zu ändern, denn nun wäre ICH der Mann im Haus. Der, der alle Entscheidungen zu treffen und dafür grade zu stehen hatte. Morgen würde ich mich in Ketten von Pflicht und Verpflichtung legen lassen.

Es wirkte so unwirklich. Erst jetzt wurde mir klar, dass ich mein Leben doch noch gar nicht wirklich genossen hatte. Ich hatte mich weder vergnügt, noch meine Freiheit ausgelebt. Immer nur meinen Eltern geholfen und gearbeitet. Langsam wurde mir klar, dass ich mir die tiefe Zufriedenheit nur eingeredet hatte.

Ich seufzte leise, als ich mich auf der Weide niederließ. Nein, ich wollte nicht weit weggehen. Was würde es mir bringen, diese Nacht ziellos umherzuziehen, wie ein ruheloser Streuner?

Nichts. 

Während meine Augen die leeren Weiden musterten, wanderten meine Gedanken augenblicklich zu meiner zukünftigen Frau. Außer ihrem Aussehen wusste ich eigentlich nicht wirklich etwas von ihr. Wir waren uns nur ab und an auf Dorffesten begegnet und hatten selten mehr als ein paar höfliche Worte gewechselt. 

Ich wünschte mir so sehr, dass sie mehr war, als nur ein üppiges Dekoltee und ein hübsches Gesicht. 

Langsam ließ ich mich nach hinten in das Gras fallen und starrte in die Sterne. Ich liebte die Gebilde der Nacht, wenn sie Hoffnung erweckend auf uns herunter sahen und strahlten wie lauter kleine Diamanten.

Manchmal wünschte ich mir, dass ich nur die Hand ausstrecken musste, um sie zu pflücken. Hätten wir nur ein paar dieser Edelsteine, dann würden wir nie wieder Hunger leiden. Meine Eltern müssten nicht mehr so hart arbeiten und könnten ihr Leben zum Schluss endlich einmal genießen, während ich keine Frau wegen ihrer üppigen Mitgift heiraten müsste.

Mit einem Mal vernahm ich Schritte neben mir im Gras. „Schöne Nacht, nicht wahr?“ Ich wollte augenblicklich in die Höhe schnellen und blieb doch ruhig liegen, als die Angst in meinem Herzen, einem Strohfeuer gleich, verpuffte. 

 „Ja.“ Meine Stimme war nur ein Hauch, der von dem Nachtwind davon getragen wurde und ich betrachtete im Augenwinkel die große Gestalt neben mir.

Sie war in einen langen, schwarzen Mantel gekleidet und trug einen schlichten Hut, der ihr Gesicht noch mehr in Dunkelheit hüllte. Sie wirkte wie ein Reisender auf mich. So wie die Gestalten, die ich öfters auf dem Marktplatz sitzen sah und nach kurzweiliger Arbeit suchten, um ihr Leben finanzieren zu können.

Ihr Mantel raschelte, als sie sich langsam neben mir niederließ. Aus sich gebotener Höflichkeit wollte ich mich aufsetzen, doch meine Muskeln gehorchten mir nicht. Seltsamerweise versetzte mich das nicht in Sorge.

 „Was treibt ein Jüngling wie du mitten in der Nacht so alleine auf dieser dunklen Weide?“ Die Stimme war sanft und männlich, mit fremder Aussprache und hüllte mich in eine wohlige Sicherheit. 

Es fühlte sich an, als würde mein Verstand in einem dichten Nebel versinken und jegliches Gefühl von Vorsicht und Selbsterhaltung verlieren. Was geschah mit mir?

 „Nachdenken“, flüsterte ich und ließ meinen Blick wieder zum Firmament wandern. 

 „Worüber denn? Du bist so jung. Eigentlich solltest du in die Welt ziehen und das Leben kennenlernen.“ Seine Worte ließen mich schmunzeln. Wie seltsam, dass ich noch vor wenigen Herzschlägen etwas Ähnliches gedacht habe.

 „Meine Worte: Ich könnte so viel von meinem Leben erwarten und stattdessen werde ich morgen heiraten. Damit ist mein Schicksal besiegelt. Ich werde hier alt werden und sterben, ohne irgendetwas von der Welt gesehen zu haben. Aber“, ich stockte kurz, verwundert über die plötzliche schmerzhafte Intensität des Freiheitsdranges. Als hätten die wenigen Worte des Fremden ihn aus seiner Winterruhe erweckt. 

 „Aber was?“, bohrte der Schwarzgekleidete nach, doch ich schüttelte nur den Kopf: „Das ist nicht wichtig.“ Mein Blick musterte verträumt die Sterne.

 „Der Himmel ist so weit und ähnlich endlos stelle ich mir die Welt vor. Ich jedoch bin schon seit meiner Geburt in diesem Dorf. Leider kann man seinem Schicksal nicht entkommen.“ 

Ich spürte Bedauern in meinem Herzen, als ich mich selbst an dieses Dorf kettete. Sicher war Hamburg ein schöner Ort, mehr noch, es war meine Heimat. Hier unter der Unendlichkeit der Nacht fühlte ich mich dennoch eingeengt, wie ein beschnittener Vogel.

 „Ich kann dir die Freiheit schenken, die du dir wünschst.“ Wie von einer unsichtbaren Macht gezogen, setze ich mich auf und spüre plötzlich seinen Atem über meinen Hals streichen. Ich erschauderte und wandte mich zu ihm um.

Sein Gesicht lag immer noch im Schatten seines Hutes und ich erkannte nur das Grinsen auf seinen Lippen, das mir alles versprach, was ich mir wünschte. Besaß er wirklich die Kraft, mich hier raus zu holen und mir die Welt zu zeigen? 

Er sah nicht wie ein reicher Mann aus. Sein Mantel war abgenutzt und hatte sogar an manchen Stellen Löchern. Auch der Hut hatte schon bessere Zeiten gesehen. Sein Rand war ausgefranst und an einigen Stellen schien der Dreck schon mit dem Stoff verschmolzen zu sein. Selbst der Dreitagebart wirkte ungepflegt und schmutzig.

Das leise, warnende Stimmchen in mir gewann durch das Lächeln des Fremden wieder an Kraft. Etwas stimmte nicht. Es war zu schön, um wahr zu sein und man bekam nichts im Leben geschenkt.

Mein Blick glitt zurück zu meinem Geburtshaus. Die Lichter waren gelöscht, weil meine Eltern schon längst schliefen. Auch ich sollte dort auf meiner Strohmatratze liegen und nicht hier draußen bei einem seltsamen Fremden.

 „Ich glaube, das ist keine gute Idee und ich sollte jetzt gehen, denn ich habe morgen einen langen Tag vor mir.“ Mit diesen Worten erhob ich mich und wollte gehen, doch die einnehmende Stimme des Fremden hielt mich auf.

 „Ist es wirklich das, was sich dein Herz wünscht? Bist du dir sicher, dass du so glücklich werden wirst?“ Sein Mantel raschelte wie totes Laub um Wind, als er sich erhob und sich mir mit ruhigem Schritt näherte. 

 „Ich habe keine Wahl“, presste ich hervor. Kurz lachte er auf, bevor er mich am Oberarm packte. Sein Griff war kräftig und unnachgiebig, ohne mir aber wehzutun. 

 „Du hast immer eine Wahl. Vertrau mir und ich werde dir Freiheit schenken.“ Seine Worte waren süß wie Honig und legten sich klebrig über meinen Verstand, dennoch konnte sie das sarkastische Lachen nicht unterbinden.

 „Na, klar. Wer’s glaubt, wird selig.“ Ich wollte mich aus seinem Griff losreißen, doch er drückte fester zu. Schmerz raste durch meinen Arm und ich unterdrückte mit Mühe einen Laut.

 „Du Unwürdiger“, zischte er bedrohlich, als er mich gewaltsam zu sich umdrehte. Ich spürte, wie er mich fixierte, obwohl seine Augen nach wie vor im Schatten verborgen blieben. 

 „Wie kannst du es wagen, mich der Lüge zu bezichtigen?! Ich verspreche dir die Unendlichkeit der Welt und du spuckst mir ins Gesicht!“ Seine Zähne glänzten unnatürlich im Licht, als er weiter sprach.

 „Viele würden sich nach diesem Geschenk sehnen, doch du trittst es mit Füßen!“, wütete er weiter. „Ich … ich verstehe nicht. Was wollt Ihr von mir?“ meine Frage klang idiotisch. 

Plötzlich lockerte sich seine Hand um meinen Arm und ich spürte, wie das Blut in den Fingern kribbelte.

 „Dir ewige Freiheit schenken. Vertrau mir und schließe deine Augen.“ Seine dunkle Stimme brach jeden Widerstand in mir und ich ließ meine Lider langsam sinken. Vollkommene Finsternis umschloss mich.

Der Wind frischte auf und für einen Moment nahm ich einen leichten Verwesungsgeruch war. Ein verendetes Tier? Es sollte mich ebenso beunruhigen, wie der immer noch feste Griff an meinem Arm. Ich war mir so bewusst wie noch nie, dass er vor mir stand und alles tun konnte, was er wollte. Egal, was es war, ich würde mich nicht wehren.

Kurz erschrak ich selbst vor meinen eigenen Gedanken und zuckte zurück, als ich seinen Atem so warm auf meinen Hals spürte, dass sich alles in mir verkrampfte. Das Gefühl, dass ich fliehen sollte, wurde stärker. Sie blieb wie ein Frosch in meinem Hals stecken und fand den Weg zu meinen Muskeln nicht. Sein Atem kam näher und im nächsten Moment spürte ich eine Berührung am Hals und ein leichtes Stechen. 

Ich stöhnte unter dem Schmerz auf und spürte, wie meine Knie zu zittern begannen, als der Mann zu saugen anfing. Es war ein seltsames Gefühl, immer mehr Blut zu verlieren. Ich hätte nicht gedacht, dass es auf diese Weise möglich war. Mein Geist fühlte sich so frei an und all meine Sorgen lösten sich in Luft aus. Ein Lächeln trat auf meine Lippen, als ich verstand, was für eine Freiheit er meinte.

Irgendwann gaben meine Knie einfach nach, doch ich fiel nicht. Behutsam wurde ich auf das weiche Gras gelegt. Der Fremde lies nicht von mir ab und labte sich weiter an meinem Blut. Das konstante Schlürfgeräusch geleitete mich in die ewige Dunkelheit.

All die Fragen, die ich stellen wollte, wirkten so bedeutungslos, als ich losließ und sich seine Lippen von meinem Hals lösten.

Trink das, Junge!

  
~*~

Als ich meine Augen öffnete, war die Dunkelheit noch da. Zuerst war ich sicher, tot zu sein, doch der vertraute Geruch nach frischem Heu lies mich bald daran zweifeln. Die ungeduldigen Laute der Kühe drangen zu mir durch, genauso wie die hektischen Schritte und Rufe von Menschen.

Ich wollte mich aufsetzen, doch ein gleißender Schmerz glitt durch meinen Kopf und ließ mich wieder zurücksinken.

Was war nur geschehen? Unsicher tastete ich meinen Hals ab, doch ich spürte dort keine Wunden. War der gestrige Abend nur ein Traum gewesen? Konnte das wirklich sein? Wie bin ich dann hierher gekommen? War ich überhaupt auf dieser Wiese gewesen?

Ich blieb liegen und wartete darauf, dass die Schmerzen in meinem Kopf nachließen. Woher diese kamen, würde ich auch gerne wissen. Schließlich war ich kein Mensch, der dem Alkohol verfiel. Im Gegenteil, ich war noch nie betrunken gewesen. Ich hatte zu oft gesehen, was dieses Gebräu aus Menschen machte. Was war es also dann? Hatte ich mich vielleicht gestoßen?

Sofort tastete ich meinem Kopf nach Beulen oder Verletzungen ab, doch auch diese waren nicht zu finden. 

Ein Seufzer stahl sich über meine Lippen, als ich gepeinigt meine Augen wieder schloss und hoffte, dass das unaufhörliche Pochen in meinem Schädel endlich aufhörte. 

 „Michael? Bist du hier irgendwo?“, drang die besorgte Stimme einer Frau zu mir durch.

 „Mutter, ich bin im Heuboden!“ Mir war zu schlecht, um mich zu bewegen, also wartete ich darauf, dass sie mich fand.

Es dauerte nur wenige Atemzüge und sie stand vor mir. Die Sorge verschwand nur kurz aus ihrem Gesicht, als sie mich erkannte und im nächsten Moment stürmisch umarmte. 

 „Oh Gott, Michael. Du hast mir solchen Kummer bereitet. Warum liegst du hier?“ Sie strich mir behutsam über die Wangen und ein paar wirre Haarsträhnen aus dem Gesicht.

 „Ich weiß es nicht. Aber ich habe furchtbare Kopfschmerzen.“ Ihre kühlen Hände taten unsagbar gut und ich schmiegte mich leicht in ihre Berührung.

 „Du siehst auch gar nicht gut aus. Du bist total blass. Kannst du aufstehen?“, fragte sie mit warmer Stimme. Sorge grub tiefe Falten in ihr Gesicht, die ich ihr am liebsten einfach weggestrichen hätte.

 „Ich weiß es nicht.“ Ich stöhnte erneut, als ich mich langsam in die Senkrechte brachte, doch die Kopfschmerzen ebbten sehr schnell ab. Mit der Hilfe von meiner Mutter stand ich nach einer halben Ewigkeit wieder auf meinen eigenen Beinen. Dankbar lächelte ich sie an.

 „Komm, du brauchst sicher was zu essen und Kraft für die Hochzeit. Jetzt komm erst einmal mit ins Haus.“ Sie nahm meinen Arm und führte mich aus dem Stall. Als ich in das grelle Sonnenlicht trat, brannte ein gleißender Schmerz durch meinen Körper, der mich gepeinigt aufschreien ließ. Ich fühlte mich, als würde ich bei lebendigem Leibe verbrennen. Alles in mir kochte und ich konnte die Tränen des Schmerzes nicht zurückhalten.

 „Michael? Was ist los?“, rief meiner Mutter alarmiert. Sie wollte mich mit sich ziehen, doch kaum glitt meine Hand aus dem Schatten ins Licht, zog ich sie blitzschnell zurück, als hätte ich in das Feuer eines Ofens gegriffen. 

 „Es tut weh! Die Sonne tut weh!“ Mehr noch, sie verbrannte mich. Ich zog die verkohlten Finger an meine Brust und krümmte mich unter den Schmerzen zusammen. Was stimmte nur nicht mit mir? 

 „Michael. Geh zurück in den Stall. Ich hole deinen Vater.“ Die Stimme meiner Mutter war plötzlich kühl und als ich meinen Blick hob, eilte sie schon davon. 

Nur langsam stand ich auf und hinkte zurück in den dunkelsten Schatten. Zögerlich betrachtete ich meine Hand. Die Haut warf Blasen und war feuerrot. Sie schmerzte und alleine ihr Anblick trieb weitere Tränen in meine Augen. Was war nur mit mir geschehen?

Noch einmal tastete ich über meinen Hals, doch dort war nichts. Ich versuchte mich daran zu erinnern, was mir meine Eltern einst erzählt hatten. Die Schauergeschichten, als ich ein kleines Kind war, um zu verhindern, dass ich in der Dunkelheit nach draußen ging.

Das waren doch alles nur Geschichten von Kreaturen, die es niemals wirklich gab. Sie sollten mir Angst machen, um mich zu schützen vor den wahren Gefahren, die es dort nun einmal gab. Menschen, die einem Kind allzu gerne wehtaten.

 „Michael?“ Ich hörte die besorgte Stimme meines Vaters und hob den Blick. Er kniete bereits vor mir, obwohl ich ihn nicht hatte reinkommen hören. Scharf zog er die Luft ein, als er erkannte, dass die Brandblasen schon verheilten.

 „Habe keine Angst, mein Sohn“, sprach er beruhigend auf mich ein, während seine Hand an meinem Hals entlang glitt. Er bog meinen Kopf erst nach links und dann nach rechts. Seine Finger berührten zwei Punkte an meinem Hals und ich hörte, wie meine Mutter zu weinen begann. Die Schmerzen begannen schwächer zu werden und ich konnte mich besser auf meine Umgebung konzentrieren.

 „Michael? Hast du Hunger?“ Seine Frage verwirrte mich ein wenig, doch plötzlich knurrte mein Magen zur Bestätigung und ich nickte kurzerhand: „Ja, irgendwie schon. Warum fragst du?“

 „Wenn du die Wahl hast, was würdest du dann gerne essen?“ Meine Verwirrung stieg immer mehr und ich setzte zu einer Gegenfrage an, doch mein Vater gebot mir zu schweigen: „Bitte, beantworte die Frage einfach nur.“

Mein Blick glitt nur kurz umher und blieb ruckartig an der pulsierenden Ader am Hals meines Vaters hängen. Hunger und Furcht verwandelten meine Kehle in einen staubtrockenen Acker. Ich erkannte meine Stimme nicht wieder, als sie heiser aus meiner Kehle kam: „Dein ... Blut, Vater.“

Meine Mutter brach zusammen und hörte nicht mehr auf zu weinen. Ich selbst zitterte, wie Espenlaub. Das war nicht normal, das war keine Reaktion eines Menschen. Das war die Antwort eines Monsters. 

 „Maria, geh bitte ins Haus und sage Herbert, dass die Hochzeit nicht stattfindet.“ Fluchtartig kam meine Mutter den Worten nach, nur mein Vater blieb bei mir. Er nahm neben mir in der Dunkelheit Platz und griff sanft nach meiner gesunden Hand.

 „Michael, du weißt, dass du mein einziger Sohn bist und mein ganzer Stolz. Niemals hätte ich gewollt, dass dies mit dir geschieht.“ Er seufzte schwer, streichelte stumm meine Hand. Solch eine Zärtlichkeit war ich von ihm nicht gewohnt. Noch mehr verstörten mich die Tränen, die ich in seinen Augen sah.

 „Kannst du dich noch daran erinnern, dass ich nicht wollte, dass die Kühe über Nacht auf der Weide sind?“, fragte er dann ruhig und ich nickte. Damals hatte ich nicht verstanden, warum er so handelte, doch dies war schon Monate her und mittlerweile nahm ich es als gegeben hin.

 „Ein Raubtier ging umher, das die Kühe gerissen hat. Seltsamerweise wurden oft große Teile der Kadaver zurückgelassen. Bald schon vermuteten wir Bauern keinen Wolf, sondern einen Vampir“, erklärte er sein Verhalten von damals, doch ich selbst konnte nur kurz auflachen.

 „Ach, komm schon, Vater. Das glaubst du doch selbst nicht! Vampire gibt es nicht! Hast du mir selbst nicht erzählt, dass dies nur Lügengeschichten der Kirche seien, um Leute verschwinden zu lassen?“, erinnerte ich ihn an seine Worte. Mein Vater schwieg nur und strich über die leicht gerötete Haut.

 „Aber was hat das Ganze mit mir zu tun?“, begehrte ich auf. Der Schmerz in meiner Hand war inzwischen nur noch ein leichtes Kribbeln einer fast verheilten Wunde. Panik verwandelte meinen Magen in einen Eisklumpen, als ich die frische, blasse Haut betrachtete. Das war nicht menschlich. Das war nicht normal. 

 „Was ist mit mir geschehen, Vater?“, ich sah ihn flehend an, „sag es mir! Was geschieht mit mir?!“ Meine Hand krallte sich in sein dreckiges Leinenhemd und alles in mir schrie nach einer Antwort und nach …

Blut!

Plötzlich wurde ich grob weggestoßen: „Reiß dich zusammen, Junge! Wenn du es nicht schaffst, dann bist du eine Bedrohung für uns alle!“

 „Was?! Nein! Vater, sag das nicht! Ich würde euch niemals etwas antun!“, begehrte ich auf und wollte nach ihm greifen, doch er wich zurück und öffnete kurzerhand eines der Fenster. 

Das Licht fiel auf meinem Körper und ich schrie unter den Schmerzen auf. Ruckartig wich ich in das letzte Stück Dunkelheit zurück und kauerte mich zusammen.

 „Du wolltest mich beißen, Junge. Niemand ist mehr vor dir sicher. Du wirst uns allen den Tod bringen.“ Seine Stimme war voller Trauer und als ich ihn ansah, erkannte ich die Tränen, die über seine Wange liefen. 

 „Was wird jetzt mit mir geschehen?“ Meine Stimme war nur ein Flüstern, doch mein Vater hatte mich gehört und er senkte seinen Blick.

 „Es gibt drei Möglichkeiten: Entweder wir töten dich oder übergeben dich der Kirche, damit sie dies für uns tut. Oder wir lassen dich ziehen und somit auf die Menschheit los.“ Ich wollte aufbegehren, ihm sagen, dass er mich, seinen einzigen Sohn, nicht in den Tod würde schicken können. Ich wollte nicht sterben! 

Mit einer Handbewegung schnitt er meine Worte ab und fuhr fort: „Oder du entscheidest dich für die vierte Möglichkeit, bei der weder du, noch andere Menschen den Tod finden werden. Ich warne dich aber, sie wird hart und beschwerlich. Hättest du die Kraft durchzuhalten, Sohn?“ Ich reckte das Kinn vor und stimmte zu, ohne zu wissen, was auf mich zukommen würde.

~*~

  Klick.

Das Metall schloss sich klickend kalt um mein Fußgelenk und ich spürte die sanfte Berührung meiner Mutter auf meiner Haut. Ihre Hände zitterten stärker als jemals zuvor und ich sah die nassen Spuren auf ihrem Gesicht.

Ich schluckte trocken, als ich das schwache Pulsieren ihrer Ader am Hals sah. Meine Kehle schnürte sich zu und ein trockener Kloß bildete sich in meiner Kehle. Ich wollte etwas trinken, aber hier gab es nichts für mich und dem Monster in mir wollte ich nicht nachgeben. Zwanghaft wandte ich meinen Blick von dem verführerischen Hals ab und sah ihr in die glasigen Augen.

Sanft strich ich ihr eine wirre Strähne hinters Ohr und lächelte sie an: „Ich hab dich lieb, Mutter. Danke für alles. Ihr kommt mich doch besuchen oder?“

Sie erhob sich und entfernte sich ein paar Schritte von mir. Mein Vater stand am Eingang des Verlieses und lächelte. „Bestimmt. Du bist unser Sohn und wir lieben dich. Egal, was du bist.“

Ich nahm diese Worte und klammerte mich an ihnen fest, als er nach der Hand meiner Mutter griff und sie langsam aus dem kleinen Raum führte. Die Sonne ging langsam auf und in ihrem rötlichen Licht, konnte ich die Silhouetten meiner Eltern gut erkennen.

 „Wir lieben dich, Michael. Vergiss das niemals“, drangen die letzten Worte meines Vaters zu mir durch, als er die Tür zu zog. Ich hörte, wie er begann den Eingang Stein für Stein zu zumauern. Mit jedem dumpfen Klang, den ich vernahm, wuchs die Angst, dass ich sie nie wiedersehen werde.

~*~

Bumm

Das stetige Klopfen dringt in meine Gedanken vor. Ich vernehme den schweren Atem und kann ihren benebelnden Duft riechen. Er ist herb und darunter liegt der süßliche Geruch des Eisens. Ich sehne mich nach dem menschlichen Blut, das hinter der Mauer für mich bereit ist. 

Meine Finger tasten über den kalten Stein, bis ich das morsche Holz spüre. Hier ist sie also: Die Tür, die sich seit jenem schicksalhaften Tage nie wieder geöffnet hat. 

Immer mehr Steine werden abgetragen und ich spüre erneut den Wunsch in mir, endlich wieder frei zu sein. Ich kann den Geschmack von Rattenblut nicht mehr ertragen! Endlich richtiges Blut schmecken. Menschliches Blut und einmal satt werden. Beeilt euch mich zu befreien! Meine Zähne drücken unangenehm an meinen Kiefer, als die Vorfreude auf ein köstliches Mahl all mein Denken befällt. Menschenblut! Ich will es schmecken! Endlich einmal schmecken! 

Ich rieche den Schweiß von zwei Menschen. Er ist sehr männlich und herb. Das Wasser läuft mir im Mund zusammen und der Speichel fließt über mein Kinn. Endlich richtiges Blut schmecken und satt sein. Nur einmal satt sein.

 „Was die da wohl zugemauert haben? Vielleicht ja irgendeinen Schatz.“ Die Stimme ist jung und neugierig. Voller Leben und Naivität. Ich jubelte innerlich, das bedeutet ein leichtes Opfer. Ideal um die Jagd zu üben.

 „Das werden wir bald wissen. Es ist schon erstaunlich, dass die Aufzeichnungen über den unterirdischen Lagerraum, die mein Vater bei sich gefunden hatte, stimmen.“ Der andere Mensch klingt sehr viel älter und reifer. Bei seinen Worten spüre ich einen leichten Stich in meinem Herzen.

War es wirklich ihr größter Schatz, den meine Eltern hier vergruben, oder doch eher die größte Schande? Wenn ich ihr Schatz wäre, hätten sie mich doch wieder raus geholt. Aber alles wird irgendwann entdeckt. Früher oder später.

Die letzten Steine fallen und ich sehe, wie das Licht durch die Risse im Holz dringt. Sofort weiche ich zurück und verkrieche mich in der dunkelsten Ecke. 

Schwerfällig öffnet sich die Tür und im nächsten Moment treten die Jünglinge ein. Ich kann das Eisen in ihren Adern riechen. Meine Zähne wachsen in freudiger Erregung noch ein Stück weiter, als sich mein Körper anspannt. 

 „Man ist es hier stickig und dunkel.“ Ich höre das Husten von dem Älteren, bevor eine neue Lichtquelle erscheint. Vorsichtshalber weiche ich dem Strahl aus und bewege mich langsam auf die Tür zu. Das Licht muss verschwinden oder der Hunger wird meine geringste Sorge sein.

 „Oh Mann, hier ist nichts. Nur Ratten. Die ganze Arbeit war umsonst“, jammert der Jüngere und erntet dadurch nur ein Schnauben.

 „Sieh es so. Immerhin haben wir jetzt ein cooles Versteck gefunden“, versucht der Ältere noch einen Vorteil aus der Sache zu ziehen und sein Freund springt sofort darauf an: „Geile Idee! Wenn man es herrichtet, kann es bestimmt super gemütlich sein.“ 

Inzwischen stehen beide im Raum und leuchten mit ihren hellen, seltsamen Kerzen umher. Sie konzentrieren sich auf den hinteren Teil und diskutieren schon über Möbel, sodass sie mich noch nicht bemerkt haben.

Ich habe mein Ziel erreicht und lasse die Tür zurück ins Schloss fallen. Sofort schnellen sie zu mir herum. Der Lichtstrahl hätte mich beinahe erwischt, doch ich kann ihm in letzter Sekunde ausweichen.

 „Scheiß Tür“, grummelt der Ältere und will sich ihr nähern, um sie zu öffnen. Als er nah genug an mir dran ist, schnelle ich auf ihn zu und reiße ihn zu Boden.

Seine seltsame Lichtquelle fällt scheppernd zu Boden, als ich ihn unter mir begrabe und meine Zähne in seinen Hals schlage. Endlich schmecke ich das Blut und es lässt mich freudig aufstöhnen, als es über meine verdorrte Kehle gleitet und meinen Magen füllt.

Ich spüre die Vibration des Kehlkopfes, als der Mensch unter mir schreien will, doch kein Laut entsteht. Als kein Bluttropfen mehr aus ihm herauskommt, lasse ich von ihm ab.

 „Hey, Lars! Was ist passiert?! Wo bist du, Alter?! Sag doch was! Warum hast du die Taschenlampe fallen gelassen?“, die Panik des Jüngeren ist berauschend. Ich erkenne, wie sein Umriss auf die Taschenlampe zu eilt, um sie an sich zu nehmen.

Ruhig richte ich mich auf und wische mir mit dem Handrücken das Blut vom Mund. Der Trank hat wirklich gut getan, aber ich könnte durchaus noch einen kleinen Nachschlag vertragen. 

Er kommt bei der Lichtquelle an und hebt sie auf. Der Strahl schnellt auf mich zu, ohne mich zu finden. Ein erstickter Schrei erklingt, als er seinen Freund entdeckt.

 „Fuck! Fuck! Fuck! Ich muss hier raus!“ Das Licht wandert unruhig durch den Raum und sucht die Tür. Kaum findet er sie, eilt er schon darauf zu. 

Ich eile hinter ihn und rieche seine Angst. Schmecke förmlich das Adrenalin, das durch seine Adern rast und ihn auf alles vorbereitet. Alles nur nicht das, was ich bin.

Ich höre, wie seine Hand sich um den Türgriff legt und ihn hinunter drückt. Im gleichen Moment umschließe ich seinen Oberkörper mit meinen Armen und reiße ihn an mich.

Instinktiv treibe ich meine Zähne durch die dünne Haut am Hals. Ruhig beginne ich zu trinken, während ich den Körper erbarmungslos an mich drücke. Das Zappeln des Jungen ignoriere ich und genieße jeden Schluck des köstlichen Elixiers. 

Wie es warm durch meine Kehle hinab fließt und den Hunger in meinem Inneren stillt. Nach langer Zeit fühle ich mich endlich wieder glücklich. So unendlich glücklich. 

Langsam lässt die Gegenwehr in meinen Armen nach und ich gleite mit meiner Beute zu Boden. Erst als kein Tropfen der roten Flüssigkeit mehr aus der Wunde kommt, lasse ich von der Leiche ab. Ruhig umschließen meine Finger den Metallring an meinem Fußgelenk und reißen ihn einfach in zwei. So kräftig habe ich mich noch nie gefühlt! Ich erhebe mich und blicke in Richtung der Tür.

Die Sonne dringt noch immer durch die Spalten im Holz, doch ich erkenne, dass sie dabei ist, unterzugehen. Bald kann ich mein Gefängnis für immer verlassen. Und dann? Ja, dann werde ich frei sein.


Ich schenke dir ewige Freiheit.